Restitution zweier historischer Bücher aus der Bibliothek der Stiftung Händel-Haus an die Fürstlich Stolberg-Roßlasche Bibliothek
Händel-Haus-Blog 2024/04
Jens Wehmann (Abt. Bibliothek/Archiv/Forschung)
Historische Bücher haben oftmals eine bewegte Geschichte hinter sich, in denen sich die Umbrüche der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte spiegeln. Provenienzmerkmale wie Besitzstempel, Eintragungen oder spezielle Einbände erzählen Geschichten, die manchmal interessanter sind als der eigentliche Inhalt, und die aus jedem historischen Buch ein Unikat machen. Gar nicht so selten lassen sich auch widerrechtliche Aneignungen nachweisen und rückgängig machen.
In der Bibliothek der Stiftung Händel-Haus befanden sich bis vor kurzem zwei in Pergament eingebundene Bücher, die die ersten drei Teile von Michael Gottlieb Steltzners Versuch einer zuverläßigen Nachricht von dem kirchlichen und politischen Zustande der Stadt Hamburg, erschienen 1731-1733, enthalten. Beide Bände befanden sich jahrelang in der Dauerausstellung. Nach der Rücknahme aus der Ausstellung war aufgefallen, dass die Bände Provenienzmerkmale der Fürstlichen Bibliothek zu Stolberg-Roßla aufweisen. Durch genauere Recherchen konnte jetzt nachgewiesen werden, dass die Bände im Zuge der Bodenreform enteignet worden waren.
Im Zuge der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) ab 1945 wurde der damalige Fürst zu Stolberg-Roßla entschädigungslos enteignet. Das Schloss Roßla ging nachfolgend in den Besitz der Gemeinde über. Auch die beweglichen Güter, das Inventar des Schlosses, darunter die Hofbibliothek, wurden enteignet. Die Bücher wurden nach Merseburg und später nach Halle abtransportiert, in der dortigen Universitäts- und Landesbibliothek (ULB) gesichtet und bei Bedarf in den Bestand übernommen. Ein Teil wurde zum Verkauf an das Zentralantiquariat der DDR weitergegeben, darunter wohl die beiden Bände mit Steltzners Versuch einer zuverläßigen Nachricht, denn im Zentralantiquariat wurden sie vom Händel-Haus erworben. Im Eingangsbuch ist der Vorgang für den 22.06.1962 unter der Eingangsnummer 62/35 verzeichnet. Der Preis betrug damals 12 Mark. Auch wenn kein direkter Bezug des Inhaltes zu Händel erkennbar ist, nutzte man offenbar diese barocke Geschichte der Stadt Hamburg zur Illustration von Händels Hamburger Zeit.
Nach der Wiedervereinigung wurde die sowjetische Bodenreform nicht rückgängig gemacht. Dies gilt jedoch nicht für die beweglichen Güter, diese unterliegen also der Restitutionspflicht.
Die folgenden Provenienzmerkmale belegen die Zugehörigkeit der beiden Bände zur Fürstenbibliothek Stolberg-Roßla:
- Runde Stempel auf den Titelseiten mit einem Hirsch und dem umlaufenden Schriftzug "Gräfl. Stolb. Bibliothek zu Roßla" (Bild 1).
- Eine im Zuge der Enteignung in der ULB vergebene Nummer "L148,", die mit Bleistift auf der Rückseite der Titelseite eingetragen ist. Da hinter dem Komma keine weitere Zahl folgt, ist anzunehmen, dass die beiden Bände Teil eines größeren Konvolutes waren, das nicht weiter aufgeschlüsselt wurde. Die Akten hierzu befinden sich in der ULB Halle (Bild 2).
- Weiße Pergamenteinbände mit Monogramm LC unter einem Fürstenhut (Bild 3).
- Reste der für Stolberg-Roßla typischen achteckigen, schwarz-gelben Signaturschilder am Fuß des jeweiligen Rückens (Bild 4).
- Handschriftlich eingetragene Sachgruppe "Geschichte. IV. E. 50." aus dem 18. Jahrhundert auf Vorsatzblatt (Bild 5).
- Eine getilgte Signatureintragung auf dem Vorsatzblatt.
Die ineinander verschlungenen Initialen LC, die sich auf den Buchrücken finden, geben einen Hinweis auf die frühere Besitzerin und Sammlerin der Bücher. Das Monogramm steht für Luise Christine, Gräfin zu Stolberg (1675-1738). Luise Christine war die Schwester von Graf Jost Christian, dem Begründer der Linie Stolberg-Roßla, und von Sophie Eleonore zu Stolberg; letztere ist bekannt dafür, dass sie die berühmte Stolberger Leichenpredigtensammlung angelegt hat. In ersten Ehe war Luise Christine mit Johann Georg von Mansfeld-Eisleben verheiratet, ab 1712 dann in zweiter Ehe mit Herzog Christian von Sachsen-Weißenfels. Sie ist in der Weißenfelser Schlosskirche beigesetzt, dem Ort, an dem Georg Friedrich Händel der Legende nach etwa 45 Jahre zuvor als Orgeltalent entdeckt worden war. Wie ihre Schwester war auch Luise Christine eine passionierte Büchersammlerin. Neue Bücher wurden damals noch zumeist ohne Einband verkauft, so dass die Käufer sie sich nach ihrem Geschmack einbinden lassen konnten. Luise Christine ließ sich ihre Bücher in dem oben beschriebenen Design mit ihrem Monogramm einbinden. Die beiden restituierten Bände fügen sich von ihrem Erscheinungsbild her nahtlos in diesen Zusammenhang ein.
Zur Abwicklung der Restitution war der Verfasser am 13. Mai in Ortenberg bei der Fürstenfamilie zu Besuch. Ortenberg ist eine kleine Stadt von knapp 9.000 Einwohnern, in der Wetterau zwischen Frankfurt und Fulda gelegen. Die Fachwerkgassen der Altstadt ziehen sich einen Hang hinauf, und oben trifft man auf einen mittelalterlichen Torturm, die Stadtkirche und schließlich das Schloss Ortenberg, den heutige Wohnsitz von Alexander Fürst zu Stolberg-Roßla und seiner Familie. Wenn auch weit vom Kernterritorium abgelegen, gehörte Ortenberg zu den Stolberg-Roßlaschen Besitztümern; das Schloss wurde aber, da es sich in Hessen und nicht in der Sowjetischen Besatzungszone befand, nicht enteignet und blieb bis heute im Besitz der fürstlichen Familie.
Alexander Fürst zu Stolberg-Roßla ist sehr bemüht um die Wiederherstellung der Bibliothek. Etwa 8.000 Bände hat er bisher zurückerhalten, den größten Teil davon aus der ULB Halle. Dennoch ist dies nur ein Teil des ursprünglich vorhandenen Gesamtbestandes. Ein hoher Raum im ehemaligen Küchentrakt wurde für die Bibliothek liebevoll hergerichtet und mit türkisfarbenen Regalen und einer umlaufenden Galerie ausgestattet. Hier haben die Bücher ihren neuen Standort gefunden. Auf Anfrage öffnet der Fürst seine Bibliothek auch gerne für die Forschung, so dass die Bibliothek lebt und genutzt wird. Hier fand die Übergabe der beiden Bände statt.
Ein Digitalisat eines anderen Exemplars von Steltzners Werk aus der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg ist im Internet vorhanden. Der Inhalt ist also jederzeit verfügbar. Für sich allein genommen ist der materielle Wert der beiden restituierten Bände nicht überragend hoch. Der tatsächliche Wert liegt eher darin, dass diese Bände nicht nur durch ihre Geschichte, sondern auch durch ihre Einbandgestaltung Teil der Fürstlich Stolberg-Roßlaschen Bibliothek sind. Diese Bibliothek stellt ein Kulturgut dar, dass es als Ganzes zu bewahren gilt. In diesem Sinn war die Restitution für uns nicht nur eine Pflicht, sondern es war eine Freude, einen kleinen Beitrag zur Rekonstruktion dieses historischen Schatzes leisten zu können.