Weltweit erste Neueinspielung einer frühen italienischen Messias-Bearbeitung auf der Basis einer Partiturhandschrift aus dem Besitz der Stiftung Händel-Haus

Händel-Haus-Blog 2024/05

Juliane Riepe (Abt. Bibliothek/Archiv/Forschung)


Vor einigen Jahren konnte die Stiftung Händel-Haus Halle aus Privatbesitz eine frühe italienische Bearbeitung von Händels Messiah erwerben. Dass Händels wohl berühmtestes Werk in den Jahren um 1770 in Florenz erklungen war, wußte man. Viele Aspekte dieses frühen Händel-revival waren jedoch unklar geblieben, nicht zuletzt die Frage nach den musikalischen Quellen. Die bis dahin in der Forschung unbekannte Handschrift erwies sich als höchst interessant: Was seit 2019 in einem Tresor des Händel-Hauses verwahrt wird, ist die älteste bekannte Quelle zu einer Aufführung des Messiah auf dem europäischen Festland.

2022 erklang der Florentiner Messia während der Innsbrucker Festwochen der Alten Musik; Grundlage war die Partitur des Händel-Hauses. 2023 war das Werk auch in Halle während der Händel-Festspiele zu hören. Die Innsbrucker Aufführung wurde mitgeschnitten; nun ist sie als CD erhältlich.

Was hat es mit dieser Bearbeitung auf sich?

 

Händels berühmtestes Werk erklingt zum ersten Mal auf dem europäischen Festland: Il Messia in Florenz

Händel gilt zu Recht als einer der ersten Komponisten der Vergangenheit, die in der Neuzeit nicht erst wiederentdeckt werden mussten, deren Werke vielmehr von ihren Lebzeiten an bis in die Gegenwart ununterbrochen Bestandteil der Musikpraxis waren. Bei näherem Hinsehen sind die Dinge allerdings komplizierter. Händels Opern waren zu seinen Lebzeiten in Italien, England und Deutschland zu hören, verschwanden dann aber für mehr als anderthalb Jahrhunderte von den Bühnen. Seine in England entstandenen Oratorien, an die Händels Nachruhm bis ins 20. Jahrhundert wesentlich gebunden blieb, erklangen, solange der Komponist lebte, ausschließlich in Großbritannien und Irland. Auch nach Händels Tod 1759 vergingen mehrere Jahre, bis zum ersten Mal eines seiner Oratorien auf dem europäischen Festland zu hören war – nicht etwa in Deutschland, das bald zur wichtigsten Aufführungsstätte der Oratorien Händels auf dem Kontinent werden sollte, sondern in Italien, genauer gesagt: in Florenz. 

Anton Raphael Mengs: George Nassau Clavering, 3. Earl Cowper (ca. 1769)

Lord und Großherzog

1757 verließ ein achtzehnjähriger englischer Lord, George Nassau Clavering (1738-1789), der 3. Earl Cowper, sein Heimatland, um standesgemäß eine Grand Tour durch Europa anzutreten. 1760 brach der junge Mann die Rückreise in Florenz ab und blieb dort (wenige Reisen ausgenommen) für den Rest seines Lebens. Cowper entstammte einer wohlhabenden Familie mit engen Beziehungen zum englischen Königshaus (Georg II. war sein Taufpate); das Erbe seines Großvaters und Vaters machte ihn zu einem der reichsten Männer der Stadt am Arno. Seine finanziellen Mittel wandte der vielseitig interessierte junge Lord vor allem auf Kunst und Musik. In den 1760er, 1770er und 1780er Jahren war Cowper eine der zentralen Figuren des Florentiner Kulturlebens. Er sammelte Gemälde (zwei Raffael-Madonnen aus seinem Besitz hängen heute in der National Gallery of Art), protegierte Maler wie Anton Raphael Mengs, frequentierte die Florentiner Opernhäuser, nahm Musiker in seine Dienste, veranstaltete Konzerte und Opernaufführungen in seinem Haus und andernorts in Florenz, erhielt Widmungen u. a. von Luigi Cherubini und Josef Mysliveček und vermittelte in den 1780er Jahren italienische Sänger und Tänzer an das Londoner King’s Theatre. 

Anon. (nach Pompeo Batoni): Peter Leopold, Großherzog der Toskana (1769)

Gute Verbindungen unterhielt Cowper auch zu der Herrscherfamilie. Als Großherzog der Toskana residierte im Florentiner Palazzo Pitti seit 1765 Maria Theresias dritter Sohn Peter Leopold, der spätere Kaiser Leopold II. (1747–1792). Mit dem jungen Habsburger wiederum gelangte Österreichisch-Deutsches nach Florenz. 1767 wurde Gluck nach Florenz gerufen; zwei Jahre später widmete er den Partiturdruck der Alceste dem Großherzog und nutzte diese Widmung, um sein ästhetisches Programm zu formulieren (Einfachheit, Wahrheit und Natürlichkeit als Grundprinzipien des Schönen). Mozarts erster Idomeneo (Anton Raaf) und sein erster Belmonte (Valentin Adamberger) sangen Jahre zuvor in Konzerten Cowpers in Florenz. Der junge Salzburger selbst konzertierte 1770 am großherzoglichen Hof; sein Vater versuchte 1772/3 (vergebens), dort eine Anstellung für den Sohn zu erhalten.

In diesem vielfältig geprägten, offenen und musikinteressierten Ambiente präsentierte Lord Cowper gegen Ende der 1760er Jahre Kompositionen, die ihm selbst vertraut, im Florentiner Musikleben jedoch gänzlich neu, ja fremd waren, von denen er aber wohl annahm, daß sie den ästhetischen Vorlieben des Großherzogs entsprechen könnten. Cowpers Vater William, nicht minder musikbegeistert als der Sohn, hatte Händel gekannt, mit ihm musiziert und mehrere der gedruckten Kompositionen Händels subskribiert. Eines dieser Werke, Alexander’s Feast, ließ der junge George Cowper am 21. April 1768 in seinem Haus aufführen, der Villa de’ Tre Visi (Palmieri) nördlich von Florenz. Zwei Tage später erklang die Komposition auf Wunsch des Großherzogs auch im Palazzo Pitti. Peter Leopold zeigte sich von der Musik Händels derart beeindruckt, dass Cowper sich aus London weitere Partituren schicken ließ, darunter den Messiah. Der Lord ließ ein Libretto drucken und überreichte Libretto und Partitur dem Großherzog, der auch dieses Werk in der Residenz hören wollte. Dort (im Palazzo Pitti) fand am 6. August 1768 die erste Aufführung des Messiah auf dem europäischen Festland statt. 

Giuseppe Zucchi: Der Palazzo Pitti in Florenz

Bearbeitungs-Fragen

Händels Komposition war damals nicht in ihrer Originalgestalt, sondern in einer Bearbeitung zu hören. Tatsächlich musste der Messiah vor dem Hintergrund der italienischen Oratorientradition fremd, ja irritierend wirken: Das Werk war dreiteilig (statt, wie in Italien üblich, zweiteilig), der Text englisch; vertont waren ausschließlich Bibelworte; es gab zahlreiche ausgedehnte Chöre (während Chöre in der italienischen Gattungstradition quantitativ und qualitativ nur eine geringe Bedeutung hatten); es fehlten ebenso eine durchlaufende Handlung wie Dialoge oder eine an die Rezitative anknüpfende Reflexion in den Arien. 

Die Aufgabe, eine italienische Textfassung herzustellen, übertrug Cowper dem Florentiner Abate Antonio Pillori (fl. 1745–1778), der seit den 1750er Jahre als Literat, Übersetzer aus dem Englischen und Italienischlehrer für reisende Engländer in Florenz wirkte. Pillori orientierte sich bei seiner Bearbeitung unverkennbar an der italienischen Gattungstradition des Oratoriums. Wie ein erhaltenes Libretto belegt, übersetzte er zunächst das ganze Werk. In einem zweiten Schritt wurde das Oratorium um etwa ein Drittel gekürzt und zu einem zweiteiligen Werk umgewandelt. Der 3. Teil entfiel bis auf das Accompagnato und den Schlußchor; das ursprünglich den 2. Teil beschließende Halleluja wurde an den Schluß des 1. Teiles gesetzt. 

Schwieriger war die Frage zu lösen, wie mit dem biblischen Text zu verfahren sei. Nach dem italienisch-katholischen Verständnis des 18. Jahrhunderts gehörte reiner Bibeltext primär in die Liturgie und war damit auch an die lateinische Sprache gebunden. So entschied sich Pillori dafür, die englische Bibel-Prosa des Messiah in italienische Verse zu transformieren – ungewohnt, doch aus Sicht der Zeit schlüssig. 

Die neue italienische Textfassung mußte nicht nur dem ursprünglichen Text gerecht werden, sondern auch der Musik. Hier arbeitete Pillori mit dem Tenor und Komponisten Salvatore Pazzaglia (1723–1807) zusammen, der mit Lord Cowper befreundet war und als eine Art Hauskapellmeister fungierte. Pillori und Pazzaglia gingen sachkundig und geschickt vor. Bei der Anpassung der Gesangslinien an den neuen Text war in den Arien und Chören ein gewisser Feinschliff vonnöten: Auftakte wurden ergänzt oder gestrichen; es gibt kleinere rhythmische Verschiebungen und Melodievarianten. In den Rezitativen wurde die Harmonik weitgehend beibehalten, die Vokalstimme jedoch neukomponiert. Die Bearbeiter achteten sorgfältig auf ein korrektes Wort-Ton-Verhältnis. Wer den Anfang des Chores „For unto us a child is born“ hört, für den Händel bekanntlich Material aus einem seiner Kammerduette entlehnte, könnte auch finden, daß die italienische Textversion („Ecco già nato un pargoletto“) überzeugender ist als die originale. 

Die Partitur

Die heute in Halle verwahrte Partitur gab den Anstoß für neuerliche Recherchen zu der Florentiner Messia-Bearbeitung, dem Kontext ihrer Entstehung und Aufführung und zu den musikalischen Quellen. Die mindestens 16 erhaltenen Partituren und Stimmensätze, die sich ermitteln ließen, stammen ganz überwiegend aus den Jahrzehnten um 1800 bzw. aus dem frühen 19. Jahrhundert. Der Schreiber der hallischen Partitur wiederum war nachweislich um 1770 in Florenz tätig. Die hallische Handschrift ist aber nicht nur eine der ältesten Quellen; sie ist die einzige, die Spuren des Bearbeitungsprozesses aufweist, der 1768 vorgenommen wurde. Mehrfach lassen Korrekturen von Schreibfehlern darauf schließen, dass der Schreiber eine Partitur mit englischem Text als Vorlage verwendete, aus ihr kopierte, Details der Vokalstimmen dann aber korrigierte, um die Melodielinie der italienischen Textunterlegung anzupassen. Bei dieser Vorlage handelte es sich (wie bei W. A. Mozarts zwei Jahrzehnte später entstandener Bearbeitung) um den frühesten vollständigen Partiturdruck des Messiah, der 1767 bei dem Londoner Verlag Randall & Abell erschienenen war. In Florenz folgten auf die Premiere des Messia weitere Aufführungen in den Jahren 1769, 1770 und 1772. 

Häufiger noch als Il Messia erklang in der Stadt am Arno in den Jahren um 1770 jedoch eine weitere Händel-Bearbeitung: die ebenfalls von Antonio Pillori und Salvator Pazzaglia erarbeitete italienische Fassung von Alexander’s Feast. Von ihr wissen wir, daß sie um 1770 nach Wien gelangte, dort aufgeführt wurde und damit am Beginn der Wiener Händel-Rezeption stand.

Dieser Florentiner Convito d’Alessandro wird – zum ersten Mal seit dem 18. Jahrhundert – am 5. Juni 2025 zur Eröffnung der Händel-Festspiele im hallischen Dom zu hören sein. Es musizieren das Händelfestspielorchester und der MDR-Rundfunkchor unter der Leitung von Attilio Cremonesi.